Fahnen und Spruchbänder in weiß-rot-weiß, Demonstranten mit Blumen in den Händen. Überraschend viele versammelten sich vor dem Hamburger Hauptbahnhof und protestierten gegen Diktator Lukaschenko und Polizeigewalt und Folter in Belarus. Unter ihnen die junge Künstlerin Kristina, die aus Belarus stammt und seit einigen Jahren in Hamburg lebt. Vorsorglich möchte sie nur ihren Vornamen preisgeben.

Protest in weiß vor dem Hauptbahnhof
Protest in rot-weiß vor dem Hamburger Hauptbahnhof …
Mit Blumen, wie in Belarus
… mit Blumen, wie in Belarus

Erst Hoffnung, dann Entsetzen

Bei dieser Wahl in Belarus hat die Künstlerin zum ersten Mal ihre Stimme abgegeben: „Das war aufregend, eine große Sache“, sagt sie. Denn es gab für sie die Hoffnung, dass sich die Verhältnisse in Belarus ändern könnten. In ihrer Heimat sei ein Erwachen der Zivilgesellschaft zu spüren, trotz des totalitären Systems. Doch die offiziell verkündeten Wahlergebnisse, offenkundig manipuliert, haben sie frustriert. Und dann war sie nur noch entsetzt über die ausufernde, brutale Gewalt von Polizisten gegen Demonstranten, wie auch gegen zufällige Passanten und Journalisten.

Zwei Todesopfer der Demonstrationen, Alexander Taraikowskij und Alexander Vikhor
Zwei Todesopfer der Demonstrationen in Belarus, Alexander Taraikowskij und Alexander Vikhor

Jetzt, Wochen darauf, steht Kristina hier vor dem Hauptbahnhof und demonstriert gegen die Regierung Lukaschenko. „Ich kann einfach nicht glauben, dass die jetzige Macht so brutal sein kann“, sagt sie. Es sei schwierig für sie, nicht dabei zu sein und das mit ansehen zu müssen. „Es ist so grausam, das kann man nicht weitergeben. Folter, Erniedrigung, das passiert hinter den Gefängnismauern.“

„Was gerade in Belarus geschieht, ist eine menschenrechtliche Katastrophe, und die Welt muss dringend einschreiten.“

– Marie Struthers
  Direktorin für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International

Kunst-Objekt: Der Kopf des Diktators

Kristina zeigt hier einige ihrer Bilder. Die Gedanken und Sorgen zu Ihrer Heimat finden sich auch als Themen und Motive in ihrer künstlerischen Arbeit. Es sind Collagen, Bilder des Diktators in den Medien, zum Beispiel bei TV-Auftritten – von der Künstlerin nachbearbeitet. „Ich habe versucht, ihn künstlerisch zu entschärfen, indem ich ihn so auseinandernehme“, sagt sie. Er sehe jetzt aus, „wie eine Fleischkugel, nutzlos, ohne Körper, der Macht entzogen“. Und dennoch erinnere die Fleischkugel immer noch an eine absolute, totalitäre Macht: Durch die Spiegelung des Kopfes entstehe ein „Loop der Macht“, ein in sich geschlossenes System. Diese Fleischkugel wird zu einem ganzen «Planeten». Entstanden sind diese Collagen schon vor fünf Jahren. Es gehe ihr grundsätzlich um das Körperliche und die unsichtbaren Strukturen: „Wie schafft es dieser Mann, das ganze Land in Angst zu halten?“

Kunst-Objekt als Protestbanner: Der Kopf des Diktators
Kunst-Objekt als Protestbanner: Der Kopf des Diktators …
als Kugel und "Loop der Macht"
… als Kugel und „Loop der Macht“

Freiheit der Kunst in Belarus – Fehlanzeige!

Es sei schwierig bis fast unmöglich, in Belarus als freier Künstler zu arbeiten, sagt sie.“Man braucht ja Meinungsfreiheit als Grundgefühl.“ Ein aktuelles Beispiel fällt Ihr dazu ein. Als ein Künstler zu einer Ausstellung eingeladen wurde, stellte er seine Idee vor: Eine Installation mit einem Schutzschild der Polizei. Darauf zog das Museum die Einladung zurück. Eine solch kritische Installation war nicht erwünscht.

Sie habe immer das Bedürfnis gehabt, Kunst zu machen, sagt die Künstlerin, aber das blieb wie unter einem Deckel. „Ich hatte eine Art Selbstzensur im Kopf, damit kämpfe ich bis heute.“

Es habe immer schon Berichte über Entführungen von Oppositionellen gegeben, die umgebracht worden sein sollen, berichtet sie. „Damit bin ich aufgewachsen: Menschen verschwinden.“ Das hatte Folgen. Viele Künstler aus Belarus seien in den 90ern ausgewandert, nach Berlin, andere nach Düsseldorf und Köln.

„Es passiert viel Böses, und ich versuche gerade, damit umzugehen, ob künstlerisch oder ganz praktisch.“

– Kristina

Mit Wut und Entsetzen blicke sie auf ihr Land, aber auch mit Hoffnung. Und sie ist begeistert. „Die Protestwelle ist ehrlich und stark!“

Die Farbe des Protestes ist weiß, und es sind auffallend viele Frauen, die auf der Straße demonstrieren: Weiß gekleidet, mit Blumen in den Händen, als Zeichen des friedlichen Protestes. In Hamburg ein ähnliches Bild wie in Minsk und anderen belarussichen Städten, wo die Frauen zu tausenden auf die Strassen gehen – aus Protest gegen den autoritären Machthaber Alexander Lukaschenko, der als „letzter Diktator Europas“ verschrien ist. Nach der Wahl am 9. August, nach der sich Machthaber Lukaschenko mit über 80 % zum Sieger erklären ließ, wird ihm grobe Wahlmanipulation vorgeworfen. Die EU hat zum ersten Mal das Wahlergebnis nicht anerkannt. In ganz Belarus (ehemals Weißrussland) demonstrieren seitdem Menschen, in Minsk waren es über 100.000, die auf die Straßen gingen. Die Proteste wurden ungewöhnlich brutal von der Polizei nieder geschlagen, in den Gefängnissen wurden Demonstranten massiv gefoltert.

 

Autor: Kay Dethlefs