Der neue documenta-Geschäftsführer Alexander Farenholtz ist als Top-Manager mit jahrzehntelanger Erfahrung eine feste Größe im Kunstbetrieb. Gerade die documenta fifteen stellt – abseits der kommerziellen Kunstwelt – viele Fragen nach dem Wert und Sinn der Kunst, und nach ihren Chancen, besonders für unser Zusammenleben.
Hier kommt der erste Teil eines Interviews, das Frau Dr. Marlene Sontes de Sommer von der Uni Kassel mit dem documenta-Chef führen konnte – und das sie mir freundlicherweise überlassen hat.
ruruHaus, zentraler Treffpunkt der documenta fifteen
ruruHaus, Café und Treffpunkt am Friedrichsplatz in Kassel
Dr. Marlene Sontes de Sommer: Sie waren schon einmal Geschäftsführer der documenta, aber auch lange Jahre als Leiter in der Kulturstiftung des Bundes. Was hat sich seit der Documenta 9 geändert – was hat sich seitdem in der Kunstlandschaft und in der Vermittlung von Kunst geändert?
Alexander Farenholtz: „Ich glaube da hat sich sehr viel geändert, in der Kunstlandschaft in Deutschland in den letzten 30 Jahren. Fangen wir vielleicht mal an mit dem, was man von außen betrachtet, an Gewicht dem Thema Kunst in der Gesellschaft überhaupt zurechnet. Ich glaube, die explosionsartige Entwicklung des Kunstmarktes, also des kommerziellen Kunstbereichs, die war Anfang der 90 Jahre ja nicht wirklich absehbar. Die große Bedeutung, die Galerien, die Auktionshäuser im Kunstgeschehen spielen, hat damals gerade erst begonnen.

Der Kunstmarkt ist zweigeteilt

Und mittlerweile haben wir es zu tun mit einer Situation, in der man fast von einer Zweiteilung reden kann: Auf der einen Seite haben wir einen enorm ausgeprägten Kunstmarkt, wir haben eine enorm ausgeprägte Messelandschaft im Kunstbereich – und auf der anderen Seite haben wir bei den vor allem öffentlich geförderten Veranstaltungen, die mit Kunst zu tun haben, eine zunehmende Skepsis gegenüber dieser rasanten Entwicklung. Und das merkt man auch in dem, was die Künstlerinnen und Künstler machen. Es ist zunehmend so, dass das was auf Biennalen oder großen Kunstausstellungen, öffentlich geförderten Kunstausstellungen gezeigt wird, sich sehr unterscheidet von dem, was auf dem Kunstmarkt passiert. Und da gibt es eine Distanzierung, was wir jetzt auch bei dieser documenta sehr stark merken. Während bei der documenta 9 ganz viele Positionen auch heute noch geläufig sind, weil wir die kennen aus den Museen, und sie eine grosse Bedeutung haben für Sammlerinnen und Sammler, finden wir bei der documenta fifteen eigentlich kaum einen bekannten Namen, der schon auf dem Markt durchgesetzt ist. Und das zeigt vielleicht ein bisschen die Geschichte, die wir in den letzten 30 Jahren durchgemacht haben.“  
Künstlerkollektiv ruangrupa aus Indonesien, Foto: Jin Panji
Im Vergleich mit anderen Länder, wie Spanien oder Italien oder Frankreich, wie sieht es aus in Deutschland?
Alexander Farenholtz: „Ich kann zu wenig sagen aus der Sicht anderer Länder, weil ich da ja natürlich selber nie gearbeitet habe, aber was sicher der Fall ist, dass in Deutschland der Anteil von öffentlichem Geld, was in Kunstförderung fließt, sehr viel höher ist, als in anderen Kulturen oder in anderen Bereichen – vor allem natürlich im angloamerikanischen Umfeld, wo der Anteil dessen, was privat investiert wird, was privat gefördert wird im Bereich der Kunst, viel, viel höher ist als der Bereich, der öffentlich gefördert wird. Deswegen finden Sie in den großen amerikanischen Museen häufig eine viel stärkere Präsenz derer, die das privat unterstützen, als das in Deutschland überhaupt denkbar wäre.“
In der Kunstvermittlung gibt es ja auch Kunst-Lobbyisten, darunter viele, die die Kunst instrumentalisieren, und die dann teilweise entscheiden, was Kunst ist.
Alexander Farenholtz: „Ich glaube ja, was Kunst ist, oder was nicht Kunst ist, und was gute Kunst ist und was vielleicht nicht so gute Kunst ist, das entscheidet sich letzten Endes erst im Rückblick. Und ich glaube, man braucht eine gewisse zeitliche Distanz für einen solchen, ich glaube man nennt das: Kanonisierungsprozess: Der Prozess, der entscheidet, was sozusagen auf Dauer bleibt als künstlerische Manifestation einer Zeit und was eben einfach vorüber geht, und was in 20, 30 Jahren niemanden mehr interessiert. Das lässt sich vermutlich aus der gegenwärtigen Betrachtung gar nicht wirklich beurteilen. Aber an diesem Kanonisierungsprozess sind ganz viele Faktoren beteiligt – da spielen eine große Rolle die Kuratoren von Ausstellungen, in Kunstvereinen und in Kunsthallen. Da spielen natürlich eine große Rolle die Museen, auch wenn die immer weniger Geld haben, selber Einkäufe zu tätigen.

Das Dilemma der Museen

Was ein Dilemma ist, auf der einen Seite sollen sie darüber mitbestimmen, was wir künftig für wichtig empfinden und was nicht, auf der anderen Seite haben sie selber gar nicht mehr die Budgets, um wirklich im Kunstmarkt aufzutreten. Und natürlich spielt auch der Markt eine Rolle – Rekordpreise auf Auktionen oder in Galerieverkäufen, die werden öffentlich wahrgenommen, und die tragen natürlich dazu bei, welche künstlerischen Positionen auch künftig als für ihre Zeit maßgeblich wahrgenommen werden.“
Fridericianum auf dem Friedrichsplatz, Dan Perjovshi, Foto: Nicolas Wefers
Sollte es nicht auch in die neue Richtung gehen? Nicht nur von privater Seite bestimmt? 
Alexander Farenholtz: „Bestimmt, ich glaube, man kann aber auch sagen: Es gibt beides. Es gibt sowohl sehr erfolgreiche Künstlerinnen und Künstler – man muss nur Namen nennen wie Gerhard Richter, die alle Rekorde brechen, die ganz erfolgreich auf dem Kunstmarkt operieren. Dann gibt es aber auch Künstler, die allgemein eine enorme Bedeutung haben, ohne, dass sie auf dem Markt so präsent sind.
Künstler Jimmie Durham, 2019, Foto: Maria Thereza Alves
Wenn Sie bspw. denken an Jimmy Durham, der überhaupt das erste Mal bei der documenta 9 dabei war, ich erinnere mich gut an ihn, auch als Person. Und der auch dieses Mal bei der documenta wieder dabei ist – leider Gottes nicht mehr als Person, er ist ja verstorben, aber doch sehr prominent, und er ist sicherlich ein ganz bedeutender Vertreter seiner Generation für die Kunst seiner Zeit, kommt aber in dem Kunstmarkt nicht in dem Maße vor, wie man das von seinen Zeitgenossen wie Gerhard Richter beispielsweise sagen könnte. Trotzdem hat er dieses doch große Gewicht in der Wahrnehmung der Kritik und in diesem Kanonisierungsprozess.“
Weitere Teile des Interviews folgen in Kürze.

Interview: Dr. Marlene Sontes de Sommer

Redaktion: Kay Dethlefs

Der Link zur documenta fifteen:

https://documenta-fifteen.de/

Der Link zu meinem Blogartikel und Podcast: Kassels wilder Osten

https://hamburgarts.de/documenta-podcast-mit-karina-chernenko-kassels-wilder-osten/

Der Link zu dem meistgelesenen Beitrag: Wie tickt das Kollektiv Taring Padi?

https://hamburgarts.de/documenta-fifteen-kollektiv-taring-padi/